Medien und Demokratie – Die vierte Gewalt

Ein zentrales Element jeder Demokratie – der „Herrschaft des Staatsvolkes“ – ist die gleichwertige Beteiligung aller ihrer Mitglieder. Jeder wahlfähige Bürger soll die Möglichkeit besitzen, durch seine Stimme das Regierungsgeschehen mitzuentscheiden und jede Stimme soll frei geäußert werden können und gleiches Gewicht besitzen.

Voraussetzung hierfür ist die freie Kommunikation unter allen Beteiligten und diese wird in großen, modernen Gesellschaften sehr wesentlich durch Massenmedien bewerkstelligt. Konkret lassen sich diesen drei zentrale Funktionen zuschreiben: Medien sollen über politische Programme etc. informieren, sie sollen durch freien Meinungsaustausch zur gesellschaftlichen Meinungsbildung beitragen und sie sollen kritisch Missstände beleuchten und dadurch eine politische Kontrolle ausüben (Chill & Meyn, 1996).

Massenmedien – Die Vierte Gewalt

Aufgrund dieser zentralen Rolle werden Medien – neben Exekutive, Legislative und Judikative – auch als „Vierte Gewalt“ bezeichnet. Diese Vierte Gewalt ist zwar durch das Grundgesetz geschützt (Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit; Art. 5 GG), sie ist im Gegensatz zu den ersten drei allerdings nicht demokratisch legitimiert (Bruns, 2007; Wickert, 2016). Daher wird sie auch stets mit kritischer Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer Objektivität und politischen Neutralität beobachtet. Schließlich besteht die Gefahr, dass medienpolitisch oder wirtschaftlich einflussreiche Personen oder Organisationen bei fehlender politischer Legitimität gesellschaftspolitisch unzulässigen oder zumindest unerwünschten Einfluss ausüben (z.B.: Bonavida, 2011, Fähnders, 2020; aber auch: Hoffmann, 2021).

Politainment

Ab der 1990er Jahre wurde ein neuer Trend beobachtet und später unter dem Begriff „Politainment“ (Dörner, 2001) beschrieben: Relativ stabile politische Lager mit berechenbaren Stammwählern wurden zunehmend durch flexible, aber auch unberechenbare Wechselwähler ersetzt. Außerdem hatte die Einführung des dualen Rundfunksystems mit der Entstehung privater Sender ab Mitte der 80er Jahre zu einem Boom der Unterhaltungsindustrie und – zwecks Erringung von Marktanteilen – zur Einführung neuer Formate wie dem des „Infotainment“ (Postman, 1985) geführt. In dieser Konstellation begannen sich medial inszenierte Wahlkampfstrategien aus dem angelsächsischen Raum auch hierzulande zu verbreiten. Wer die immer volatilere Gunst der Wähler – sprich: Wählermarktanteile – erringen wollte, der musste sich nun auch bürgernah und unterhaltsam zeigen. Talkshows, aber auch reine Unterhaltungssendungen, wurden zur Plattform der politischen Selbstdarstellung (Dörner, 2012; s.a.: Opaschewski, 2002).

Mediendemokratie und Mediokratie

Das politische System selbst wandelte sich dabei von der klassischen Parteiendemokratie hin zu einer „Mediendemokratie“ (Meyer, 2001). Erstere geht davon aus, dass Parteien das politische Geschehen sachlich bestimmen und dabei von Seiten der Medien beobachtet werden. Bei der Mediendemokratie kehren sich die Verhältnisse um. Nun beobachten politische Akteure die Medien, was man zu sagen und wie man sich zu verhalten hat, um Wählergunst und Aufmerksamkeit zu erlangen (Meyer 2002).

Beim Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit unterwerfen sich die politischen Akteure unter aufmerksamkeits-ökonomischem (Franck, 1998; s.a.: Franck, 2017) Druck zweier Logiken des Mediensystems: Die Auswahl von Nachrichten (Selektionslogik) erfolgt anhand ihres Nachrichtenwertes, z.B. der Prominenz der beteiligten Personen, des Überraschungswerts oder ihrer Dramatik („If it bleeds, it leads“; siehe z.B.: Stern, 2015). Durch die Inszenierung von Nachrichten (Präsentationslogik) soll versucht werden, das Publikumsinteresse an eine Nachricht möglichst lange aufrechtzuerhalten, z.B. durch Personifizierung oder Skandalisierung.

Indem politischen Prozessen die mediale Handlungslogik aufgezwungen wird, verschiebt dieser Trend das politische Geschehen zunehmend von einer Demokratie in Richtung auf eine „Mediokratie“ (Meyer, 2002; s.a.: Bussemer, 2015, Lüscher, 2012). Das politische Kerngeschäft – die Herstellung gesellschaftlich relevanter und verbindlicher Entscheidungen – wird dabei durch medial inszenierte Scheinthemen und Irrelevanzen beeinträchtigt, zumindest jedoch störend überlagert. Erschwerend kommt die völlig unterschiedliche zeitliche Taktung beider Prozesse hinzu. Politisches Handeln benötigt unter Einbeziehung aller Akteure mit zugehörigen Erörterungen oder Kompromissbildungen zumindest bei wichtigen Fragen meist Jahre. Massenmediales Handeln ist hingegen auf aktuelle Ereignisse ausgerichtet und mit eher kurzem Verfallsdatum versehen. Dabei werden langfristig ausgerichtete Prozesse schnell in tagesaktuell verwertbare Informationsfragmente zerhackt und theatralisch aufbereitet, um einen gewünschten Medienerfolg beim Rezipienten zu erbringen. Journalisten werden so zu demokratisch nicht legitimierten und dennoch politisch immunen Mitregenten (Meyer, 2015).

Literatur:

  • Bonavida, I. (2011). Berlusconi: Medien, Macht und Manipulation. Die Presse, 15.11.2011. Online-Link.
  • Bruns, T. (2007). Die Wichtigtuer. Der Tagesspiegel, 18.08.2007. Online-Link.
  • Bussemer, T. (2015). Beziehungsstörungen. Politik und Kommunikation, 17.02.2015. Online-Link.
  • H. Chill & H. Meyn (1996): Funktionen der Massenmedien in der Demokratie. Informationen zur politischen Bildung, Heft 260, 3/1996. Online-Link.
  • Dörner, A. (2001): Politainment – Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt: Fischer.
  • Dörner, A. (2012) Politainment – Thesen zum Zusammenhang von Politik und Unterhaltung in der deutschen Gegenwartsgesellschaft. In: Robert Grünewald, Ralf Güldenzopf & Melanie Piepenschneider (Hrsg.). Politische Kommunikation – Beiträge zur Politischen Bildung. Schriftenreihe Politische Bildung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Band 1, S. 25-32. Online-Link.
  • Fähnders, T. (2020). Krebsgeschwür der Demokratie – Australien untersucht Murdochs Medienmacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2020. Online-Link.
  • Franck, G. (1998). Ökonomie der Aufmerksamkeit. München: Hanser.
  • Franck, G. (2017). Wir erleben einen emotionalen Klimawandel. Interviev von Peter Laudenbach in brand eins 02/2017Online-Link.
  • Hoffmann, C. (2021). Das Herz des Journalismus schlägt links – so what? European Journalism Observatory, 11.02.2021. Online-Link.
  • Lüscher, T. (2012). Mediokratie oder die Kontruktion der Wirklichkeit. Cardiovascular Medicine 2012; 15(1), S. 3–6. Online-Link.
  • Meyer, T. (2001): Mediokratie – Die Kolonalisierung der Politik durch die Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Meyer, T. (2002): Mediokratie – Auf dem Weg in eine andere Demokratie? Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15-16/2002, S. 7-14. Online-Link.
  • Meyer, T. (2015). Die Unbelangbaren – Wie politische Journalisten mitregieren. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Opaschewski, F. W. (2002). Politainment ist mehr eine Geschmacksfrage. Interview von Helmut Uwer in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.01.2002. Online-Link.
  • Postman, N. (1985) Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Fischer: Frankfurt am Main.
  • Stern, R. (2015). Dringend nötig: Mehr gute Nachrichten. European Journalism Observatory, 09.07.2015. Online-Link.
  • Wickert, U. (2016). Medien haben ein falsches Verständnis von Toleranz. Interview von Maximilian Nowroth in der Wirtschaftswoche vom 28.01.2016. Online-Link.

AK 13.11.2022