Prolog – Vorgeschichte philosophischen Denkens

Wenn man den Beginn der Philosophie bestimmen möchte, muss man eigentlich sehr weit ausholen. Bereits vor etwa 100000 Jahren, als moderne Menschen begannen, von Afrika aus die übrigen Kontinente zu besiedeln, brachten sie die Fähigkeit zur Sprache mit sich. Sie konnten das, was sie sahen und erlebten, in mentale Vorstellungen übersetzen und diese Vorstellungen konnten sie mit anderen Menschen teilen. In gewisser Weise hatten sie damit eine zweite, kognitive Welt geschaffen, in der sie Dinge und Ereignisse der realen Welt abbilden und diese gedanklich manipulieren konnten. Durch die sprachliche Fähigkeit zur Kommunikation verbanden sie ihre Gedanken zu einer gemeinsamen, sozial geteilten Vorstellungswelt. Einmal Gelerntes konnte nun in relativ umfassend an andere und insbesondere an nachfolgende Generationen weitergeben werden, wodurch es immer mehr zu einem gemeinsamen Wissensbestand sozialer Gruppen akkumulierte. Erst auf einer solchen Grundlage konnte sich etwas wie „Philosophie“ im Sinne einer gesellschaftlichen, reflektierenden Auseinandersetzung mit sich und der Welt entwickeln.

Aber wie ist es überhaupt dazu gekommen?
Die neolithische Revolution: Ackerbau und Viehzucht im fruchtbaren Halbmond ab ca. 9000 v. Chr.

Bis zu diesem Schritt dauerte es allerdings noch viele Jahrtausende. Zunächst wanderten soziale Verbände als Nomaden mehr oder weniger systematisch (z.B. dem Klima oder Tierherden folgend) durch ihre jeweiligen Lebensräume und bestritten als Wildbeuter (Jäger und Sammler) bzw. als Wanderhirten ihren Lebensunterhalt. Bereits vor ca. 45000 Jahren hatten Menschen begonnen, auf ihre natürliche Umgebung Einfluss zu nehmen, um den Nahrungsmittelertrag zu verbessern. Man legte beispielsweise in Savannen und Trockenwäldern Bodenfeuer, da man wusste, dass in der darauf folgenden Vegetationsperiode essbare Lebensmittel besser wuchsen und leichter zu finden waren (Wilson, 2013, S. 100). Aber erst ab ca. 10000 v.Chr. – nach Ende der letzten Eiszeit und mit beginnendem Holozän – veränderte sich die Lebensweise grundlegend. Im Zuge der sogenannten „neolithischen Revolution“ (eigentlich ein Prozess, der einige tausend Jahre andauerte) wurden Menschen sesshaft, und sie begannen im „fruchtbaren Halbmond“ – einem Halbkreis von Mesopotamien (griech.: „zwischen den Flüssen“) bis Ägypten -, das Land durch Ackerbau und Viehzucht systematisch nutzbar zu machen. Die höheren Produktivität dieser Lebensweise führte dazu, dass mehr Menschen auf demselben Raum ernährt werden konnten und in der Folge entstanden größere Städte bzw. Stadtstaaten. Zu einer der ersten und wichtigsten Metropolen der damaligen Epoche wurde die sumerische Stadt Uruk ab ca. 4500 v. Chr. am Unterlauf des Euphrat in Mesopotamien.

Entstehungszentren und Verbreitung der Landwirtschaft im Zuge der neolithischen Revolution nach 9000 v. Chr.

Zwischen 8500 und 2500 v. Chr. entstanden auf allen bewohnten Kontinenten außer Australien mindestens sechs weitere Zentren, in den Pflanzen und Tieren domestiziert und Landwirtschaft und Viehzucht entwickelt wurden (Diamond & Bellwood, 2003, S. 597). Von diesen Zentren ausgehend verbreitete sich die neue Lebensweise nahezu über die gesamte bewohnte Erde.

Die Menschen „machten sich die Erde untertan“ (Genesis, 1. Mose 1, 28) – aber sie zahlten dafür auch einen hohen Preis:

  • Der Übergang von Wildbeuter- zu komplexeren Gesellschaften in Europa

    Dieser Schritt war nämlich bald nicht mehr umkehrbar. Immer größer werdende Bevölkerungsgruppen konnten irgendwann gar nicht mehr anders ernährt werden als durch Landwirtschaft und Viehzucht. Der Weg zurück zu einer nomadischen Lebensweise war – außer man hätte den Tod eines großen Bevölkerungsanteils in Kauf genommen – dadurch abgeschnitten. Man konnten dieser Revolution aber auch in der geografischen Breite nicht entrinnen. Ackerbaukulturen vermehrten sich ungleich schneller als nomadische Wildbeuter, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis letztere die neue Technologie übernahmen oder von den sich schneller vermehrenden Ackerbauern mit der Zeit verdrängt wurden (Scarre, 2018, S. 186ff). 10000 v. Chr bevölkerten etwa 5-8 Millionen Wildbeuter die Erde. Um das Jahr 1 waren es noch 1-2 Millionen, gleichzeitig lebten nun aber ca. 250 Millionen Menschen in sesshaften Ackerbaukulturen (Harari, 2013, S. 125). Die neolithische Revolution entfaltete also mit der Zeit eine enorme Eigendynamik, der man sich bald nicht mehr entziehen konnte. Nicht ohne Grund spricht Harari (2013, S.102) davon, dass eine Handvoll Pflanzenarten wie Weizen, Reis und Kartoffeln den Menschen domestizierten und nicht umgekehrt.

  • Uruk – Die erste Metropole der Weltgeschichte (Terra X)

    Das Leben in den neu entstandenen Metropolen musste nun zunehmend rational geplant und gesteuert werden: Wie viele Produkte müssen vom wem angebaut werden, um alle zu ernähren? Wie lässt sich eine ausreichende Wasserversorgung für diesen Zeitraum sicherstellen? Wie viel Getreide etc. muss geerntet und gelagert werden, um bis zur nächsten Anbauperiode abgesichert zu sein? Und wie kann man sicherstellen, dass dies alles auch geschieht? Die Gemeinschaft als Ganzes war auf Dauer nur überlebensfähig, wenn alle ihre Mitglieder koordiniert handelten und die Dinge erzeugten, die die Gemeinschaft benötigte. Während in kleineren Gruppen von Jägern und Sammlern Aufgaben kurzfristig abgesprochen oder Dispute auf direktem Weg geklärt werden können, wurde nun die übergreifende Organisation gemeinschaftlichen Gesamtverhaltens zu einer überlebenswichtigen Aufgabe.

    Joshua Greer, https://slideplayer.com/slide/11842945/
    Beispiel der hierchischen Sozialstruktur früher Gesellschaften

    Dabei entstanden immer komplexere, arbeitsteilige Gesellschaften, in denen dem Einzelnen feste Rollen und Regeln zugeordnet wurden, die festlegten, was man von ihm erwartete. Auch Eigentumsrechte an bestimmten landwirtschaftlichen Einheiten musten nun festgehalten und abgesichert werden (Wer mehrere Monate in die Bewirtschaftung des Bodens investiert, muss auch sicher sein können, dass ihm der Ertrag dieser Arbeit in zumindest hinreichenden Maß zugute kommt). Dieses Eigentum – wie auch der akkumulierte Wohlstand der gesamten Gemeinschaft – mussten schließlich vor dem gewaltsamen Zugriff durch Andere bzw. von Außen geschützt werden? Die für die Fülle dieser neuen Aufgaben notwendigen, hierarchisch organisierten Verwaltungsmechanismen und die darin beauftragten Personen (Verwaltungsbeamte, Militär etc.) mussten schließlich noch sozial legitimiert (Priester, Herrscher oder Gesetze) und finanziert werden (allgemeine Abgaben bzw. Steuern).

  • Für die meisten Mitglieder der Gesellschaft war die neue Lebensweise nur vordergründig komfortabler, in etlichen Lebensbereichen mussten Verluste an Lebensqualität und an individueller Freiheit in Kauf genommen werden: Die Nahrungsversorgung wurde einseitiger und sie hing bald von relativ wenigen kultivierten Lebensmitteln ab. Außerdem stieg mit dem Anwachsen von Siedlungen und der Nähe zu domestizierten Tieren das Aufkommen von Infektionskrankheiten und Seuchen. Auch der individuelle Lebensalltag wurde nun den Anforderungen und dem Rhythmus der kollektiven Organisation unterworfen. Während Jäger und Sammler typischerweise drei bis fünf Stunden relativ selbstbestimmt arbeiteten, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Sippe zu sichern, war die Arbeit für einen Großteil der Gesellschaft nun mehr oder weniger fremdbestimmt und nahm den größten Teil des Tages in Anspruch.

Fragment einer Tontafel aus dem Gilgamesch-Epos aus dem 7. Jhd. v. Chr., gefunden in Niniveh (heute Mossul)
Fragment einer Tontafel aus dem Gilgamesch-Epos (7. Jhd. v. Chr.)

Der Aufbau und Erhalt derart komplexer Gesellschaften erforderte also zahlreiche Innovationen, von denen die Erfindung der Schrift die mit Abstand weitreichendste gewesen sein dürfte. Vorläufer hierfür gab es schon vor über 40000 Jahren und zwar in in Form von Höhlenmalereien. Verkleinerte und abstrahierte Abbildungen – sogenannte „Piktogramme“ – bildeten die Grundlage für die gegen 3300 v. Chr. vermutlich im mesopotamischen Stadtstaat Uruk entwickelte Keilschrift. Zunächst wurde diese vorwiegend zu Buchführungszwecken genutzt: Auf speziellen Tontafeln erfasste man Art und Anzahl produzierter Agrarprodukte, bevor diese besteuert und in der festgelegten Menge an die Städte verteilt wurden. Später wurden auch mythisch-literarische Werke (Gilgamesch-Epos um 2200 v. Chr.) oder Gesetzestexte (Codex Hammurapi um 1800 v. Chr.) auf Tontafeln festgehalten. Ungefähr ab 2400 v. Chr. begann man, geschrieben Briefe als Mittel zur Fernkommunikation zu verwenden (Krebernik, 2012, S. 30).

Keilschrift und andere Schriftsysteme, die bald danach entstanden (z.B. ägyptische Hieroglyphen) entwickelten sich immer weiter, um auch komplexere Sachverhalte abbilden zu können (vgl.: Pichot, 1995, S.38ff, S. 153ff). Zu den Piktogrammen kamen Ideogramme, die abstrakte Sachverhalte oder Namen bezeichneten, nun aber keinerlei optische Ähnlichkeit mit diesen mehr aufwiesen. Sie konnten nicht mehr aus ihrem Aussehen erschlossen werden, sondern mussten einzeln gelernt werden, was den Erwerb der Schreibfähigkeit damit auch immer aufwendiger gestaltete. Daher ging man mit der Zeit dazu über, durch Zeichen nicht (nur) Dinge sondern Sprachlaute abzubilden (Phonogramme), und dadurch gewissermaßen die Sprache selbst zu imitieren. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung kurz nach 800 v. Chr. in Griechenland mit der Einführung  der ersten alphabetischen Schrift (Hölkeskamp & Stein-Hölkeskamp, 2019, S. 86). Mit knapp 30 relativ leicht erlernbaren Zeichen konnte nun die Sprache vollständig und eindeutig festgehalten werden.

Zunächst scheint die Wiedergabe des gesprochenen Wortes mittels der Schrift allerdings mit einer gewissen Skepsis beäugt worden zu sein. So vertritt Platon gegen 370 v. Chr. die Meinung, dass nur die innere Auseinandersetzung mit dem gesprochenen Wort bzw. die lebhafte Diskussion zu echter Erkenntnis führe. Die Schrift stelle hingegen hierzu lediglich ein unbeseeltes Abbild  dar. Im „Phaidros“ – einem literarischen Dialog zwischen Sokraktes und dessen Freund Phaidros – lässt er seinen Lehrer Sokrates die folgenden Worte sagen:

„So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die sie kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Gedächtnisses, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel lesen, sind nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch größtenteils Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Dünkelweise geworden sind, nicht Weise.“ (Platon, Phaidros, 275 St.3)

Platons Skepsis mag so falsch nicht gewesen sein, allerdings hätten wir ohne die Entwicklung der Schrift von alldem heute keinerlei Kenntnis.

Weitere Internetressourcen:
  • Human Family Tree. Smithsonian National Museum of Natural History. Online
  • Human Evolution Interactive Timeline. Smithsonian National Museum of Natural History. Online
  • Human Evolution. Encyclopedia Britannica. Online
  • Die Urzeit-Revolution – Wie der Mensch die Landwirtschaft erfand. Scinexx – Das Wissensmagazin. Online
  • Uruk. World History Encyclopedia. Online