2. Materiale Abstraktion und Nomologie – Galilei (ab 16. Jhd.)

Mit der Zeit wurde man allerdings auch auf Inkonsistenzen der aristotelischen Bewegungslehre aufmerksam: Nur Objekte der himmlischen Sphären bewegen sich auf ewigen Bahnen von alleine; innerhalb der irdischen Sphären benötigen Bewegungen eine Ursache und diese Ursache muss während der gesamten Bewegung wirken. Dies ist im Falle von natürlichen Bewegungen (der „schwere“ Stein fällt nach unten) oder bei Lebewesen (der Vogel „will“ fliegen) noch unproblematisch. Aber was bewegt einen Gegenstand, den man geworfen hat, nachdem er die Hand verlassen hat? Zunächst gab es Ansätze für theoretische Ergänzungen (z.B. die Impetustheorie). Ab dem 14. Jahrhundert drängte jedoch die zunehmenden Verbreitung von Feuerwaffen auf Klärung konkreter ballistischer Probleme (vgl.: Sonar, 2007), die mit aristotelischer Terminologie nicht gelöst werden konnten. Mit Beginn des 16. Jhd. benötigte auch die Seefahrt zunehmend genauere mechanische Chronometer, um Längenpositionen besser bestimmen zu können. Und durch die Arbeiten des Nikolaus Kopernikus geriet bald auch das geozentrische Weltbild unter Druck: In seinem 1543 veröffentlichte Hauptwerk „Über die Umlaufbahnen der Himmelsphären“ hatte dieser gezeigt, dass die damals verfügbaren Beobachtungsdaten wesentlich einfacher – und daher seiner Meinung nach plausibler – mit einem heliozentrischen als mit einem geozentrischen Weltbild vereinbar wären. Allerdings konnte er für seine Behauptungen keinen direkten Beweis erbringen und formulierte sie als Hypothesen.
Erkenntnis durch Beobachtung und Experiment
Auch Galileo Galilei, der 1589 an die Universität Pisa eine Stelle als Hochschullehrer für Mathematik antrat, beschäftigte sich mit der Bewegung von Körpern. In dieser Zeit entstand seine Schrift „De Motu„, in der er ebenfalls Überlegungen zum Verhältnis von Gewicht und Fallbewegung anstellte, die Aristoteles zwar nicht widersprachen, aber doch zumindest in Zweifel zogen: Holz und Blei sind unterschiedlich schwer, wirft man beide jedoch ins Wasser, sinkt lediglich Blei während Holz schwimmt. Folglich sollte die Fallgeschwindigkeit auch vom Medium, in dem sich beide befinden, abhängig sein.
Anhand eines Gedankenexperiment stellte er die aristotelische Bewegungslehre schließlich gänzlich in Frage und auf den empirischen Prüfstand: Angenommen, man würde einen leichten und einen schweren Körper zusammenbinden und fallen lassen. Eine Möglichkeit wäre, beide zusammen fallen schneller als der schwere Körper alleine, da sie zusammen schwerer sind. Alternativ wäre auch denkbar, dass der leichtere Körper den schwereren hemmt und die Fallgeschwindigkeit beider zusammen geringer ist, als die des schweren Körpers alleine (s.a. Online-Simulation). Mangels Möglichkeiten zur genauen Zeitmessung erfand er einen experimentellen Aufbau zur Klärung dieser Frage. Mittels einer schiefen Ebene verlängerte er die Fallzeit, so dass sie hinreichend exakt messbar wurde. Das Ergebnis ist heute allgemein bekannt: Die Fallgeschwindigkeit ist unabhängig von Gewicht eines Körpers (allerdings nicht von seinem Luftwiderstand).
Mit diesem experimentellen Versuchsaufbau abstrahierte Galilei von der Materie – die Ergebnisse sollten für verschiedene Körper, leichte oder schwere, gleichermaßen gelten – und formulierte Gesetzmäßigkeiten unabhängig von der Materie bzw. über verschiedene Materien hinweg: Die Beschleunigung von Körpern beim Fall in luftleeren Raum auf der Erde wird Galilei zu Ehren heute noch mit g = 9,81 m/s2 angegeben. Die Methode des Experiments bzw. der quantifizierenden Beobachtung und Beschreibung von Phänomenen – die er allerdings vermutlich selbst bei seinem Vater Vincenso abgeschaut hatte – machte ihn gleichzeitig zum Begründer der exakten neuzeitlichen Naturwissenschaften.
Neben dieser wissenschaftlichen Revolution war Galilei auch an einer astronomischen Revolution beteiligt, die allerdings erheblich mehr zu seinem Bekanntheitsgrad beitrug: Unter anderem beschäftigte er sich auch sehr erfolgreich an der Weiterentwicklung des 1608 von Hans Lipperhey erfundenen Teleskops. Bereits 1610 beschrieb er damit die vier sogenannten „Galileischen Monde“ des Jupiters und stellte fest, dass diese sich offenbar und den Jupiter herum bewegten. Damit hatte er erstmals einen empirischen Beleg gegen die Universalität des geozentrischen Weltbildes und eine Stütze für die heliozentrische Hypothese des Kopernikus (s.o.). Im Zuge der späteren Verbreitung seiner Thesen geriet er allerdings zunehmend in Konflikt mit der Kirche, der 1633 in den berühmt gewordenen Prozess mündete, in dem er sich gezwungen sah, seine Aussagen zu widerrufen.
Aus seinen Arbeiten entwickelte sich bald die klassische Mechanik, deren prominentester Vertreter Isaac Newton mit seinen Bewegungsgesetzen das Verständnis über natürliche Bewegungen vertiefte: Ein Körper fällt nicht aufgrund seines inneren Wesens, sondern weil eine externe Gravitationskraft – hier zwischen der Erde und dem betreffenden Körper – bewirkt, dass er von der Erde angezogen wird. Ein ruhender Körper wird durch einen Impuls von außen angestoßen und verharrt dann gleichförmig in dieser Bewegung, bis er erneut äußeren Kräften ausgesetzt wird; eine innere, fortwährende Bewegungsursache ist dabei nicht notwendig.
Nomologische Gesetze und ein mechanistisches Weltbild
Damit eröffnete sich gleichzeitig der Weg zu einem völlig neuen, mechanistischen Weltbild, in dem Ereignisse nicht mehr durch inhärente Ursachen (wie bei Aristoteles), sondern durch äußere Gesetzmäßigkeiten determiniert sind. Alles Geschehen im Universum ist – wie ein gigantisches Räderwerk – vollständig durch diese Gesetzmäßigkeiten und damit gewissermaßen durch seine Vorgeschichte bestimmt. Würde man alle Elemente dieser Welt und die zwischen Ihnen wirkenden Kräfte kennen, so könnte man – theoretisch – jedes Ereignis in Zukunft wie auch Vergangenheit berechnen („Laplacescher Dämon„; tatsächlich lassen sich in Observatorien auch heute noch die Sternen- und Planetenkonstellationen aus Galileis Zeit herstellen). Aber wie sollte man ein Universum, in dem Alles mit Allem zusammenhängt, verstehen können? Eine Antwort hierauf hatte Galilei mit seiner experimentellen Methode gegeben: Man greift in dieses Weltsystem ein – schneidet das System gewissermaßen auf – und untersucht lediglich eines oder wenige Elemente, indem man diese gezielt manipuliert und beobachtet, welches Verhalten aus dieser Manipulation resultiert (vgl.: Bischof, 2016, S. 52ff). Galilei nahm zwei unterschiedlich schwere Gegenstände, legte sie auf seine schiefe Ebene und maß die Zeit, die die Gegenstände für die Abwärtsbewegung benötigten. Alles in Allem eine hochgradig künstliche Situation, die es ihm dann allerdings erlaubte, die Falldauer und Fallgeschwindigkeit in Abhängigkeit vom Gewicht zu bestimmen. Und da diese Fallgeschwindigkeit über alle Versuche gleich blieb, konnte er schließen, dass sie unabhängig vom Gewicht des jeweiligen Gegenstandes war bzw. vom Gewicht nicht beeinflusst wurde.
Im aristotelischen Naturverständnis wurde für jede Bewegung eine (in vier Bereiche untergliederte) Ursache benötigt, die über die gesamte Zeit der Bewegung wirken musste. Würde – hypothetisch betrachte – keine Ursache wirken, so würde sich Welt innerhalb der irdischen Sphären in Ruhe befinden (bzw. gar nicht existieren). Das mechanistische Weltbild geht hingegen prinzipiell davon aus, dass die (gesamte) Welt in gleichbleibender Bewegung befindet und unterschiedliche Ereignisse durch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten miteinander verbunden sind (Nomologie). Ursachen sind nur für Bewegungsänderungen nötig.
Das Experiment hatte sich als geeignete Methode gezeigt, das Netz der wechselseitigen Verknüpfungen aufzuschneiden, einzelne Ereignisse künstlich herzustellen und ihre kausale Abhängigkeit voneinander zu untersuchen. Damit wurde der Weg für die empirische Forschung eröffnet, die sich über den Weg der sich bald formierenden Naturwissenschaften auf immer mehr Wissensbereiche ausweitete und letztlich das Zeitalter der Aufklärung mit vorbereitete.
Noch zu Beginn des 20. Jhd. wurden in der Psychologie die Prinzipien der mechanistischen Physik als Maßstab wissenschaftlichen Arbeiten gedeutet. Im damals entstandenen Behaviorismus versuchte man, sich von nicht-objektiven und damit vermeintlich unwissenschaftlichen Methoden wie die der Introspektion zu befreien, indem man den Menschen als „Black Box“ betrachtete, dessen Verhalten als Reaktion auf äußere Stimuli konzipiert und untersucht wurde. Spätestens jetzt kam der mechanistische Ansatz jedoch an seine Grenzen. Es zeigte sich nämlich, dass sich die Tiere zwar in der Enge einer experimentellen Versuchskammer an die von Forschern erwartete Reaktion hielten, sobald sie jedoch freigelassen wurden, zeigten sie höchst unterschiedliches spontanes Verhalten, das sich eher eine Art angeborenen „Instinktverhaltens“ beschreiben lässt. Auf solche Ungereimtheiten hinweisende Publikationen (z.B. Breland & Breland, 1961) führten im Laufe der Zeit zu einer kognitionspsychologischen Erweiterung des Models, in der das Konzept einer „Black Box“ um informationsverarbeitende Prozesse erweitert wurde.
Interessanterweise erinnerte diese Problematik nun doch wieder an die aristotelische Vorstellung einer Entelechie als innere Antriebskraft des Verhaltens. Auf die Fragen „warum fliegen Vögel?“ und „warum fallen Steine?“ wurde oben die rhetorische Antwort gegeben „weil sie wollen“. Während die Vorstellung einer willensähnlichen Instanz im Falle der Steine heute einigermaßen absurd klingt, lässt sie sich für Vögel nicht so leicht abtun. Irgendwie wird bei Lebewesen das Verhalten ja tatsächlich von innen gesteuert oder zumindest maßgeblich beeinflusst. Für Menschen hat die moderne Psychologie in diesem Zusammenhang Konzepte wie „Motiv“ und „Motivation“ entwickelt, kommt damit allerdings auch noch nicht allzu weit über die bloße Klassifikation subjektiv erlebter Antriebskräfte der Art „Menschen sind gerne unter anderen Menschen, weil sie ein Anschlussmotiv besitzen“ hinaus.
Die zugrunde liegende Problematik wird allerdings besser verständlich, wenn man sie aus strukturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet.
Literatur:
- Bischof, N. (1981). Aristoteles, Galilei, Kurt Lewin – und die Folgen. In: Michaelis, W. (Hrsg.): Bericht über den 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Zürich 1980. Bd. 1. Göttingen: Verlag für Psychologie. S. 17-39. Online-Link
- Bischof, N. (1990): Ordnung und Organisation als heuristische Prinzipien des reduktiven Denkens. In: Nova acta Leopoldina. NF 63, Nr. 272: S. 285-312. Online-Link
- Bischof, N. (2014). Psychologie – Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart: Kohlhammer.
- Bischof, N. (2016). Struktur und Bedeutung – Einführung in die Systemtheorie. Bern: Hogrefe.
- Kuhn, T. (1967). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt: Suhrkamp.
- Lewin, K. (1931). Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. Erkenntnis, 1, S. 421-466. Online-Link
- Sonar, T. (2007). Die Entwicklung der Ballistik von Aristoteles bis Euler. Ein Beitrag zum Euler-Jahr 2007. In: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Band 59, S. 203-230. Online-Link
Interessantes:
- LEIFIPhysik: Der Weg zum physikalischen Kraftbegriff von Aristoteles bis Newton. Online-Link
- LEIFIPhysik: Galileis Untersuchung des freien Falls. Online-Link
- Lernhelfer: Entdeckung der Bewegungsgesetze (2010). Online-Link
- Peplies, Tim Adrian (2021). Kausalität und kausales Erklären. Inaugural-Dissertation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Online-Link
AK 09.11.2022