1. Klassifizierende Abstraktion und materiale Teleologie – Aristoteles (ab 4. Jhd. v. Chr.)

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Die Strukturierung und Klassifikation der erfahrbaren Welt mit Hilfe abstrahierender Kategorien war bereits in der Antike Kernbestandteil philosophischen Denkens mit ihrem wohl prominentesten Vertreter Aristoteles. Seine Vorgehensweise war naiv-realistisch geprägt und basierte wesentlich auf unmittelbaren Erfahrungen. Morgens geht die Sonne auf, wandert um die Erde, verschwindet am Abend und nachts kommen Mond und Sterne, die ebenfalls in nahezu völliger Regelmäßigkeit ihre Bahnen ziehen. Ewig gleichbleibendes Geschehen am Himmel – aber nicht auf der Erde: Dinge kommen und gehen, verändern sich ständig und man kann zwar auch hier Regelmäßigkeiten feststellen, dies jedoch nur in deutlich geringerem Ausmaß. Bäume sind zuerst klein, werden immer größer und irgendwann sterben sie wieder ab. Aber wie lange das dauert, oder wie groß sie werden kann sich von Baum zu Baum ziemlich unterscheiden. Wenn etwas brennt, zieht der Rauch stets nach oben, je nach Wind nicht immer auf die gleiche Weise, aber doch irgendwie immer nach oben. Ähnlich verhält es sich mit Steinen, nur dass die eben nach unten fallen.
Erkenntnis durch Klassifikation

Wenn man also die Vorgänge dieser Welt besser verstehen möchte, was läge näher, als diese Vorgänge zunächst irgendwie zusammenzufassen? Dazu lädt die menschliche Sprache geradezu ein. Klassifikation – die Zusammenfassung einzelner Objekte zu einer Klasse ähnlicher Objekte – ist eine Kernvoraussetzung, um sich sinnvoll über die Welt austauschen zu können (s.o.). Auch Aristoteles entwickelte zunächst eine Liste von 10 unabhängigen, nicht aufeinander zurückführbaren Kategorien, anhand derer er Beobachtungen klassifizierte. „Klassifizieren“ bedeutet hier, einem Objekt anhand dieser Kategorien eine wesentliche Eigenschaft bzw. ein Prädikat zuzuordnen, wobei der ersten Kategorie nach dem Sein eine zentrale Stellung zukam. Beispielsweise könnte man eine beobachtete Person namens „Hans“ mit dem Prädikat „Mensch“ belegen: „Hans ist ein Mensch“ (Kategorie 1), „Hans ist 1,80 Meter groß“ (Kategorie 2) oder „Hans ist sehr intelligent“ (Kategorie 3).
Klassifizierte Beobachtungen können laut Aristoteles per Induktion verallgemeinert werden (diese aus heutiger Sicht problematische Annahme – siehe: Induktionsproblem – wird in Buch 8 seiner Topik bezeichnenderweise rhetorisch bzw. dialektisch begründet und nicht logisch oder epistemologisch): Die Menschen „Karl“, „Erna“ und „Anton“ sind gestorben, woraus sich (nach kritisch hinterfragender Disputation) der allgemeine Satz formulieren lässt: „Alle Menschen sind sterblich“.
Umgekehrt lassen sich durch Deduktion aus gültigen allgemeinen Aussagen logisch korrekte Folgerungen ableiten. Mit seiner Syllogistik begründete Aristoteles ein bis heute gültiges System, um Aussagen logisch stimmig zu verknüpfen und falsche Schlussfolgerungen zu identifizieren. So lässt sich aus „alle Menschen sind sterblich“ und „Hans ist eine Mensch“ logisch korrekt folgern „Hans ist sterblich“. Unkorrekt wäre es hingegen, aus „alle Menschen sind sterblich“ und „Hans ist sterblich“ zu folgern „Hans ist ein Mensch“. „Hans“ könnte ebenso ein Hund sein.
Die aristotelisch Erkenntnismethode bestand also im Wesentlichen darin, die Komplexität der erfahrbaren Welt durch Klassifikation auf immer allgemeinere, abstraktere Aussagen zu reduzieren. Aus „dieser Stein, den ich gerade losgelassen habe, ist auf dem Fußboden gefallen“ wird „schwere Gegenstände fallen nach unten“. Er verband damit die Erwartung, mit zunehmender Abstraktion letztlich das „innerste Wesen“ der Dinge feststellen zu können. Würde man die Welt auf diese Weise hinreichend genau und umfassend beschreiben, so sollte es möglich, Einzelereignisse mit Hilfe deduktiver Ableitungen aus dem Fundus des Wissens erklärbar zu machen.
Kosmologisches Spärenmodell
Aber alle Dinge sind irgendwie in Bewegung bzw. verändern sich und damit stellt sich die Frage, was diese Bewegungen hervorruft? Was bringt den Stein dazu, zu Boden zu fallen? Warum fliegt ein Vogel? Was ist das Agens dieser Welt? Betrachtet man die unmittelbare Erfahrungsumwelt auf der Erde, so lassen sich zunächst drei Arten von Bewegungen unterscheiden: Manche Dinge bewegen sich, weil etwas von außen auf sie einwirkt, z.B. ein Stein, der geworfen wird (erzwungene Bewegungen; „motus violentus“). Andere Bewegungen erfolgen von selbst und finden gewissermaßen natürlich statt, wie etwa ein Stein, der zu Boden fällt oder Rauch, der nach oben steigt (natürliche Bewegungen zur Wiederherstellung einer gestörten Ordnung; „motus naturalis“). Schließlich gibt es noch die Bewegungen von Lebewesen aufgrund einer inneren Befähigung („motus a se“). Allen diesen Bewegungen und Veränderungen ist gemein, dass sie nur von begrenzter Dauer sind und scheinbar zielgerichtet auf eine Endpunkt hin zulaufen. Der Stein – egal ob geworfen oder nur herunterfallend – liegt irgendwann bewegungslos auf dem Boden. Auch die Statue ist irgendwann fertig modelliert und gebrannt, ebenso wie sich der ausgewachsene Vogel nicht bzw. nur noch sehr langsam verändert.

Diese Fragen lassen sich nicht ohne einen Blick auf das antike kosmologische Spärenmodell beantworten. Dieses unterscheidet zwischen himmlischen und irdischen (sublunaren) Sphären, in denen der aristotelischen Bewegungslehre zufolge unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten gelten.
Bewegungen innerhalb der himmlischen Sphären – Mond, Planeten und Sterne – erfolgen stets gleichbleibenden und in vollständigen Harmonie. Da nach aristotelischem Verständnis Bewegungen, solange sie erfolgen, eine Kraft benötigen (s.u.), muss ihr Verhalten durch einen stets aktiven „unbewegten Beweger“ verursacht sein. Anderthalb Jahrtausende später formulierte Thomas von Aquin daraus seinen kosmologischen Gottesbeweis. Aus heutiger Sicht könnte man in diesem Bewegerprinzip durchaus eine Art astrophysikalische „Gesetzlichkeit“ verstehen, wie sie in den Newtonschen Bewegungsgesetzen (hier insbesondere dem Trägheitsgesetz) formuliert wurden.
Bewegungen der irdischen Sphären – also der unmittelbaren Lebensumwelt – sind hingegen offensichtlich unregelmäßig und spontan, sie müssen folglich irgendwie differenzierter verursacht sein. Dabei lassen sich zunächst natürliche und erzwungene Bewegungen unterscheiden. Bei letzteren ist die Ursache in der Regel offensichtlich. Ein Stuhl, der von einem Ort zu einem anderen verschoben wird, hat sich bewegt, weil er von jemandem verschoben wurde. Interessanter sind hingegen natürliche Bewegungen, die die Ursachen der Veränderung scheinbar in sich tragen. Warum fliegen Vögel (belebte Welt)? Warum fallen Steine (unbelebte Welt)?
Entelechie – Bewegung und Entwicklung der Materie
In anthropomorpher Sprache könnte die Antwort lauten „weil sie wollen“ (Kinder zwischen 2 und 7 Jahren neigen tatsächlich zu solchen animistischen Antworten). Auch im aristotelische Naturverständnis lagen die Ursachen für Veränderungen in den Dingen selbst. Jegliche Materie verhält sich offenbar gemäß ihres Wesens und strebt nach Vollendung bzw. nach Erreichung ihrer idealen Form (Entelechie). Die Klasse, zu der etwas zählt, bestimmt dessen Verhalten. Der Stein strebt danach, seiner idealen Ort (den Boden) zu erreichen, der Vögel strebt danach, zu fliegen. Verhalten wird damit also als zielgerichtet bzw. zweckmäßig aufgefasst, wobei der Zweck im sich verhaltenden Objekt oder Lebewesen enthalten ist (Teleologie).
Der Begriff der „Ursache“ wurde bei Aristoteles umfassender verstanden als dies heute der Fall ist. Als Antwort auf die Frage, warum etwas so ist wie es ist, klassifizierte er vier Ursachen (Stoff-, Form-, Wirk- und Zweckursache), die alle am Zustandekommen von Phänomenen beteiligt sind. Ursachen im heutigen, mechanistisch-deterministischen Sinn (s.u.) werden „kausal“ verstanden und beziehen sich auf die Abfolge von miteinander verbundenen Ereignissen. Während im aristotelischen Verständnis von Veränderungsprozessen die Zweckursache eine zentrale Rolle spielte, entspricht die Wirkursache am ehesten der heutigen Vorstellung.
Durch diese teleologische, zweckgerichtete Ursachenkomponente einer „Zweckursache“ geht Aristoteles über die reine Beschreibung bzw. Erklärung (s.u.) hinaus und führt einen Wertaspekt im weitesten Sinn ein: Materie „strebt danach“ ihre ideale Form zu erreichen. In der seinem Sohn gewidmeten „Nikomachischen Ethik“ übertrug er diesen Entwicklungsgedanken auch auf die menschliche Lebensführung und gab Empfehlungen, wie man mit Hilfe Vernunft oder Kontemplation durch tugendhaftes Leben „Glückseligkeit“ („Eudaimonie„) als oberste Form vollendeter Lebensführung erreichen kann. Aufgabe des Staates sei es, durch geeignete Gesetzgebung die Tugendhaftigkeit der Gemeinschaft zu fördern.
Aber – um auf die hier interessierende Unterscheidung zwischen Fakten und Werten zurückzukommen: Wie kommen die Präferenzen für Handlungen bzw. Entwicklungen in die Materie? Wie kommen die Werte in die Fakten? Wie kommt das Sollen ins Sein? Bereits Kant stellte in seiner 1870 erschienenen „Kritik der Urteilskraft“ den Erkenntniswert teleologischer Aussagen in Frage und argumentierte, das Konzept „Zweckmäßigkeit“ sei eine intellektuelle Leistung unseres Verstands, nicht jedoch Bestandteil der Natur.
Ästhetik als heuristisches Prinzip
Deutlich weiterreichende Erläuterungen hierzu finden sich bei Bischof (2014, S. 198ff): Aristoteles betrachtete die Welt als naiver Realist und ging davon aus, dass die Dinge und Ereignisse der realen Welt in etwa so sind, wie man sie wahrnimmt. Mittlerweile ist allerdings mehr über die Prozesse bekannt, die zwischen der realen Welt und unserer Wahrnehmung der Welt vermitteln (vgl.: „Kritischer Realismus„). So weiß man aus der Gestaltpsychologie, dass wir bereits in einem früherer Stadium der Wahrnehmung dazu neigen, Wahrgenommenes zu systematisieren, um es als ästhetisch „gute Gestalt“ zu erleben („Prägnanztendenz„). Was Aristoteles als eine den Dingen inhärente und durch abstrahierende Klassifikation beschreibbare zielgerichtete Eigenschaft beschrieb, ist also in gestaltpsychologischer Sprache ein Phänomen der Wahrnehmung, Ungeordnetes zu gruppieren und als ästhetisch möglichst prägnant erscheinen zu lassen. Teleologisch ist dabei der Wahrnehmungsprozess, nicht jedoch die Eigenschaft der Materie. Oder mit Blick auf die Prägnanztendenz der Wahrnehmung formuliert: „Genau diese Phänomenologie aber war es, die die aristotelische Physik naiv-realistisch in Ontologie übersetzt hat“ (Bischof, 2014, S.202).
Über 1500 Jahre lang blieben der teleologisch auf Prägnanz bzw. Ästhetik ausgerichtete kognitive Prozess der Wahrnehmung der Natur mit der ontologischen Erklärung der Natur verwoben. (Und selbst zu Beginn des 18. Jhd., nachdem Newton längst seine Bewegungsgesetze veröffentlicht hatte, formulierte Leipnitz noch eine auf dem Gedanken der Entelechie basierende Monadenlehre.) Diese „entelechiale Klammer“ (Bischof, 2014, S. 214ff) von Wahrnehmung und Erklärungsprinzip wurde erst in Zuge der galileischen Wende aufgebrochen (s.u.).
Auch seine Bewegungslehre wurden nicht nennenswert in Frage gestellt und bildete zusammen mit der darauf aufbauenden Ptolemäischen Astronomie die Grundlage für ein geozentrisches Weltbild. Die damit verbundene Vorstellung einer vollendete Himmelsmechanik und dem unvollkommenen Geschehen auf Erden fügte sich nahtlos in die Lehre des Christentums, das sich ab dem 1. Jhd. in Mitteleuropa verbreitete und zur gesellschaftlich bestimmenden Religion wurde.
Literatur:
- Bischof, N. (1981). Aristoteles, Galilei, Kurt Lewin – und die Folgen. In: Michaelis, W. (Hrsg.): Bericht über den 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Zürich 1980. Bd. 1. Göttingen: Verlag für Psychologie. S. 17-39. Online-Link
- Bischof, N. (1990): Ordnung und Organisation als heuristische Prinzipien des reduktiven Denkens. In: Nova acta Leopoldina. NF 63, Nr. 272: S. 285-312. Online-Link
- Bischof, N. (2014). Psychologie – Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart: Kohlhammer.
- Bischof, N. (2016). Struktur und Bedeutung – Einführung in die Systemtheorie. Bern: Hogrefe.
- Lewin, K. (1931). Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. Erkenntnis, 1, S. 421-466. Online-Link
Interessantes:
- Aristoteles (ca. 344 v. Chr.). Organon. Wiki-Link, Zeno-Link
- Aristoteles (ca. 322 v. Chr.) Metaphysik. Wiki-Link, Zeno-Link
- Physik für alle – Aristoteles. Online-Link
- SR 2 Philosophie-ABC: Entelechie. (2016). Online-Link
AK 05.01.2023